Bericht: Gedenken an die Deportation 1942

Am 80. Jahrestag der Deportation, am 10. Juni 2022, hatten die Historische Werkstatt Nordenstadt e.V. (HWN) und das Volksbildungswerk Nordenstadt-Erbenheim-Delkenheim e.V. (VBW) zum Ortsrundgang „Jüdisches Leben in Nordenstadt“ eingeladen. Gertrud Jensen begrüßte für die HWN und Anita Schneider als Vorsitzende seitens des VBWs den großen Kreis der Teilnehmenden. Die Gebühreneinnahmen werden vom VBW für die Erhaltung der KZ-Gedenkstätte Osthofen gespendet.

Als Vertreterin des Stadtverordnetenvorstehers Dr. Obermayr war Frau Altintop-Nelson anwesend sowie die Mitglieder des Ortsbeirats Nordenstadt Herr Jung, Herr Jacks und Frau Jensen. Oberbürgermeister Mende hatte wegen anderer Termine absagen müssen.

Klaus-Dieter Jung stellte die Stolpersteine der Familie Schönfeld vor. Clementine Schönfeld, die Mutter, war eine zupackende Frau, in Nordenstadt als Clemen bekannt und beliebt. Wer einen liebevollen Spitznamen hatte, war Teil der Gesellschaft. In dem Haus wurden von Clemen betagte jüdische Menschen versorgt, wie in einem Altersheim. Tochter Recha war Kindergärtnerin geworden und eröffnete im Haus den ersten Kindergarten in Nordenstadt, der 1933 geschlossen werden musste. Clementine, ihr Sohn Benny sowie die Tochter Irene mit ihrem Mann Ludwig und dem erst einjährigen Sohn Paul wurden deportiert und ermordet.Ingrid Noll erzählte vom Leben der Familie Ochs, die sehr zurückgezogen lebte und mit wenig Geld auskommen musste. Der Handel mit Schmierstoffen für landwirtschaftliche Geräte brachte wenig ein. Die Tochter Sylvia war aufgrund der finanziellen Situation sehr ausgegrenzt. Sie erhielt wegen ihrer schönen roten Haare den Spitznamen „Orschel Rot“. Die Mutter half in anderen Haushalten aus. Es gibt nur ein Klassenfoto, auf dem Sylvia zu sehen ist.

Klaus-Dieter Jung stellte auch Selma Fried und Martha Schiffer vor, die beide in dem Haus Stolbergerstraße 43 geboren wurden, später in Wiesbaden gelebt hatten. Im heutigen Lädchen war der Gemischtwarenladen der Familie Fried. Ludwig Fried, der Bruder von Selma und Martha, war mit einer Christin verheiratet, wurde trotzdem zusammen mit seiner Tochter Anita im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert, dort befreit. Sie kehrten Ende Juni 1945 nach Wiesbaden zurück.Beim Rundgang wurde auch daran erinnert, dass in der Stolbergerstraße kurz vor dem Horchem die Familie Kahn gewohnt hatte. Gabi Wahler berichtete, dass vor allem der Sohn Sally Kahn zusammen mit Karl Grund und Wilhelm Noll über Nordenstadt hinaus berühmt wurden. Die drei bildeten eine Kunstradfahrgruppe und konnten nicht nur mehrmals die Deutsche Meisterschaft, sondern vergleichbar 1928 einen europäischen Titel gewinnen. 1933 durfte Sally nicht mehr mitfahren, was das Ende der erfolgreichen Gruppe bedeutete. Die Familie Kahn konnte nach Schweden emigrieren.

In der Rüsselgasse befinden sich die weiteren Stolpersteine. Gabi Wahler erzählte von der Familie Löwenstein: Sali und Frieda und Tochter Mally. Sali war ein erfolgreicher Viehhändler und ein beliebter und angesehener Bürger Nordenstadts. Viele Jahre war er im Vorstand des Gesangvereins. Er hatte zuerst in der Heerstraße gewohnt, dort wurde das Haus zu klein, so dass er in der Rüsselgasse neu baute. Die Tochter Mally war sehr krank, so dass man nicht emigrierte. Als sie 1939 starb, konnten die Eltern nicht mehr nach Südafrika, wohin Tochter Selma mit ihrem Mann auswandern konnte, noch nach New York zu Sohn Julius. Gabi Wahler hat Selma in Südafrika kennengelernt und immer noch Kontakt zur Familie.

Nils Jensen stellte Elise Weis aus der Rüsselgasse vor. Auch sie hat in ärmlichen Verhältnissen gelebt, wurde „Lumpenlieschen“ genannt, weil sie mit Pferd und einem kleinen Wagen im Ländchen Lumpen und Altwaren einsammelte. Alle Geschwister bis auf die Schwester Bertha wurden deportiert und umgebracht. Bertha, mit dem Christen Dauster verheiratet, war 1943 drei Monate in Gestapohaft in Frankfurt, wo sie misshandelt wurde und gezeichnet nach Nordenstadt zurückkam. Sie ist 1966 verstorben. Es gibt kein Foto von Elise Weis.

Werner Wahler berichtete von Joseph Joseph, der Metzger und Viehhändler war. Die Metzgerei hatte Kundschaft aus der ganzen Umgebung, man kaufte Rindfleisch und Wurstwaren ein. Doppelsepp wurde Joseph Joseph liebevoll von den Norschtern genannt. Josephs Frau Berta starb 1941, Joseph wurde mit Clemen am 28. August 1942 von Nordenstadt nach Frankfurt und von dort nach Theresienstadt deportiert und dort 1944 ermordet.

Axel Junghans, ehemaliger Pfarrer in Nordenstadt, berichtete, dass beim Weg der jüdischen Mitbürger*innen zum Sammelplatz zur Deportation am Alten Rathaus kein Mensch auf der Straße war.

Beim Haus Heerstraße 35 wurde kurz der Familie Weis gedacht, die dort in einem kleinen Haus gewohnt hatte, was einem Neubau weichen musste. Gabi Wahler berichtete, dass dort bereits 1920 Jugendliche das Haus beschädigten und zu Geldstrafen verurteilt worden waren. Da die Familie keine Zukunft mehr in Nordenstadt sah, zog sie nach Wiesbaden. Dort wird in der Victoriastraße 39 mit Stolperseinen an die in Nordenstadt geborene Jenny Mendel, geb. Weis und ihre Tochter Ingeborg erinnert.

Zum Abschluss des Rundgangs am Mahnmal informierte Gabi Wahler an die Entstehung des Mahnmals an dem Platz, vom dem aus die jüdischen Mitbürger*innen deportiert wurden. Es ist der erste Gedenkort in Wiesbaden gewesen, am 7. Dezember 1994 unter Beteiligung der Jüdischen Gemeine Wiesbadens eingeweiht. Der niederländische Künstler Marc van den Broek erinnert mit Namen an jeden Deportierten, wobei die Größe der Stelen keiner Zuordnung z.B zum Alter entspricht. Gertrud Jensen informiert über die jüdische Cultusgemeinde Wallau, zu der die Nordenstadter Juden/Jüdinnen gehörten. Das Inventar der Synagoge in der Bachstraße wurde in der Pogromnacht am 9. November 1938 verbrannt, das Haus 1967 abgerissen. Der Jüdische Friedhof, den es seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt, wird von der Stadt Hofheim gepflegt. Die letzte Beisetzung war Sally Schönfeld 1940.

Zum Abschluss trug Nils Jensen die deutsche Übersetzung des Gebets für die Opfer der Shoa vor, anschließend Dan Bober die hebräische Originalfassung.Auf der Gedenktafel des Mahnmals steht „ Wehret den Anfängen!“ Dies galt 1994 ebenso wie heute, 80 Jahre nach der Deportation und Ermordung der Nordenstadter Mitbürger*innen.

Text: Gertrud Jensen

Foto: vbw